Die Beurteilung von Auszubildenden ist ein Kernelement der Ausbildung. Sie dient nicht nur der Formalität, sondern ist Ihr wichtigstes Werkzeug, um Talente zu fördern, Defizite zu erkennen und die jungen Fachkräfte von morgen optimal auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Eine strukturierte und faire Bewertung motiviert und schafft Klarheit.
Warum Beurteilungen?
Regelmäßige Beurteilungen sind unerlässlich, weil sie:
- Entwicklung fördern: Sie identifizieren Stärken und Schwächen und helfen, individuelle Fördermaßnahmen abzuleiten.
- Transparenz schaffen: Sie geben dem:der Auszubildenden eine klare Rückmeldung über den Leistungsstand und die Erwartungen.
- Grundlage für Entscheidungen bilden: Sie sind die Basis für Gespräche über Übernahme, Versetzung oder die Anpassung des Ausbildungsplans.
- Motivation steigern: Konstruktives Feedback, besonders zur positiven Entwicklung, wirkt stark motivierend.
Anlässe für Beurteilungen
Beurteilungen sollten nicht nur am Ende des Ausbildungsjahres stattfinden. Ein Mix aus formalen und informellen Anlässen ist ideal:
- Periodische Formalbeurteilungen: Klassischerweise am Ende jedes Ausbildungsabschnitts oder Ausbildungsjahres. Sie dienen dem offiziellen Nachweis der Lernfortschritte.
- Ablauf von Probezeiten: Eine wichtige, oft vertraglich festgelegte Beurteilung, die über die Fortführung des Ausbildungsverhältnisses entscheidet.
- Nach Abschluss eines Projekts/einer Abteilung: Nach einer Rotation (z. B. im Handel: Wechsel von der Kasse in die Warenannahme; im Handwerk: Abschluss eines komplexen Werkstücks) wird die Leistung in diesem spezifischen Bereich bewertet.
- Anlassbezogene Zwischengespräche: Bei akuten Problemen (z. B. wiederholte Unpünktlichkeit) oder bei besonders herausragender Leistung, um direkt zu korrigieren oder zu loben.
Der Prozess der Beurteilung
Ein effektiver Beurteilungsprozess ist kontinuierlich, objektiv und nachvollziehbar.
- Vorbereitung (Was wird bewertet?):
- Definieren Sie klare Kriterien. Neben Fachwissen (z. B. im Handwerk: korrekte Anwendung von Fügetechniken; im Handel: sichere Beherrschung des Warenwirtschaftssystems) bewerten Sie vor allem Schlüsselkompetenzen (Pünktlichkeit, Lernbereitschaft, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit).
- Beobachtung (Wie wird bewertet?):
- Nutzen Sie einen Beurteilungsbogen mit Skalen (z. B. von 1=sehr gut bis 5=mangelhaft) und einem Freitextfeld.
- Bewerten Sie das Verhalten in verschiedenen Situationen (z. B. Kundenkontakt, Zusammenarbeit im Team, selbstständiges Arbeiten).
Beispiel Handel: Beobachten Sie, wie der:die Azubi eine Reklamation handhabt. Wird aktiv zugehört, lösungsorientiert gehandelt und die Freundlichkeit bewahrt?
Beispiel Handwerk: Beobachten Sie die Sorgfalt beim Rüsten einer Maschine oder das selbstständige Aufmaß nehmen. Wird die notwendige Arbeitssicherheit beachtet?
- Feedback-Gespräch (Rückmeldung):
- Führen Sie das Gespräch zeitnah nach der Bewertung.
- Nutzen Sie die Sandwich-Methode (Positives – Kritisches mit konkreten Beispielen – Positives).
- Formulieren Sie klare Ziele für die nächste Periode (SMART-Prinzip). Nicht: „Sei freundlicher.“ Sondern: „Spreche in den nächsten vier Wochen bei jeder Kundenberatung aktiv zwei Zusatzprodukte an.“
Hilfsmittel für die objektive Beurteilung
Um Subjektivität zu vermeiden, nutzen Sie standardisierte Instrumente:
- Standardisierte Beurteilungsbögen: Diese enthalten vordefinierte Kriterien und eine einheitliche Skala (z. B. 1 bis 5). Dies sichert die Vergleichbarkeit und lenkt den Fokus auf die wichtigen Kompetenzen.
| Kriterium | Beschreibung | Bewertung (1 = sehr gut bis 5 = mangelhaft) | Anmerkungen/Beispiele |
| Fachkenntnisse | Verfügbarkeit und korrekte Anwendung von theoretischem Wissen in der Praxis. | Handel: Beherrscht die Kassensystem-Funktionen fehlerfrei. | |
| Lernbereitschaft | Zeigt Eigeninitiative beim Erwerb neuer Inhalte und nimmt Feedback aktiv an. | Fragt nach zusätzlichen Aufgaben oder liest selbstständig Fachliteratur. | |
| Zuverlässigkeit | Hält Absprachen ein, ist pünktlich und erledigt übertragene Aufgaben termingerecht. | Handwerk: Dokumentiert die Wartungsschritte sauber und vollständig. | |
| Kundenorientierung | Geht freundlich und lösungsorientiert auf Kundenwünsche oder -probleme ein. | Handel: Berät proaktiv und beherrscht auch schwierige Reklamationen. |
Tabelle: Ausschnitt aus einem Beurteilungsbogen
- Ausbildungsnachweise/Berichtshefte: Diese dokumentieren die erlernten Tätigkeiten und dienen als objektive Basis, um die Vollständigkeit der Ausbildungsinhalte zu prüfen.
- 4-Augen-Prinzip (Mehrere Beobachter:innen): Lassen Sie den:die Azubi, wenn möglich, von verschiedenen Ausbilder:innen oder Anleiter:innen bewerten, die die Leistung in unterschiedlichen Situationen beurteilen konnten. Dies erhöht die Validität der Bewertung. Beispiel Handwerk: Der Meister in der Werkstatt beurteilt die praktische Ausführung, während der kaufmännische Leiter die Dokumentation und Materialbestellung beurteilt.
- Zielvereinbarungsbögen: Hier werden die individuellen Ziele des:der Azubis für einen bestimmten Zeitraum festgehalten und am Ende des Zeitraums bewertet.
Beobachtungsfehler vermeiden
Um Fairness zu gewährleisten, müssen Sie sich Ihrer eigenen, häufig unbewussten Beurteilungsfehler bewusst sein:
- Halo-Effekt (Heiligenschein-Effekt): Eine einzige, herausragende Eigenschaft (positiv oder negativ) überstrahlt alle anderen Merkmale. Weil der:die Azubi sehr freundlich ist (Handel), wird seine mangelnde Kenntnis über die Produktsortimente übersehen.
- Primacy-Effekt: Die zuerst gemachten Beobachtungen (z. B. in den ersten Wochen) beeinflussen die gesamte spätere Beurteilung unverhältnismäßig stark.
- Recency-Effekt: Nur die jüngsten Ereignisse kurz vor der Beurteilung (positiv oder negativ) bleiben im Gedächtnis und verzerren das Gesamtbild. Führen Sie laufend Notizen über das Verhalten des:der Azubis.
- Milde- oder Strenge-Fehler: Die Tendenz, generell zu milde (aus Angst vor Konflikten) oder zu streng (aus überzogenen Erwartungen) zu bewerten.
- Tendenz zur Mitte: Aus Unsicherheit werden fast alle Kriterien im mittleren Bereich („befriedigend“) angekreuzt, wodurch die eigentliche Leistung nicht differenziert widergespiegelt wird.
Besonderheiten bei der Generation Z
Die aktuellen Auszubildenden (Gen Z, geboren ab ca. 1997) bringen neue Erwartungen mit:
- Wunsch nach Sinn und Werten: Sie möchten verstehen, warum sie etwas tun. Erklären Sie den größeren Zusammenhang ihrer Arbeit.
- Hoher Feedback-Bedarf: Die Gen Z ist mit ständigem digitalem Feedback aufgewachsen. Sie benötigen kurze, häufige Rückmeldungen – idealerweise informell im Tagesgeschäft ergänzend zur formalen Beurteilung.
- Work-Life-Balance: Sie legen Wert auf klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Nutzen Sie dies, um ein hohes Engagement während der Arbeitszeit zu erwarten.
Ihre Beurteilung ist Ihr Beitrag zur beruflichen Reife. Bleiben Sie dabei fair, wertschätzend und vor allem konstruktiv. Sehen Sie die Bewertung als gemeinsame Standortbestimmung auf dem Weg zu qualifizierten Fachkräften im Handel und Handwerk.
